Der Tote lag ausgestreckt und entkleidet auf einem der vier Tische in Saal 1 des Instituts für Rechtsmedizin, Außenstelle der Medizinischen Hochschule Hannover, und starrte aus leeren Augen direkt in das kalte Licht der Neonleuchten. Es war früher Abend, und noch immer hatte es nicht aufgehört zu regnen. Ganz im Gegenteil, der Regen vom Vormittag hatte sich mittlerweile zu einem echten Unwetter entwickelt.
In Oldenburg herrschte Ausnahmezustand. Manche der alten OOWV-Kanäle waren den Wassermassen nicht mehr gewachsen. In einigen Stadtteilen war es mittlerweile zu massiven Überschwemmungen gekommen. Keller wurden überflutet. Auf der Nadorster Straße, Ecke Bürgereschstraße, stand das Wasser kniehoch auf der Kreuzung. Die Feuerwehr war im Dauereinsatz. Im Saal 1 der Rechtsmedizin in der Pappelstraße 4 hingegen merkte man von dem Chaos draußen auf den Straßen glücklicherweise wenig bis gar nichts.
Ein leises Piepen signalisierte den Beginn einer Aufnahme durch das neue, sprachgesteuerte Diktiergerät, das seit kurzem auch hier Verwendung fand. Die neuen Geräte galten deshalb als besonders praktisch, weil man durch die berührungslose Steuerung die Hände bei den Untersuchungen frei hatte und sich so auf das Wesentliche konzentrieren konnte.
Dr. Elena Braun freute sich diesmal ausnahmsweise über die Arbeitserleichterung, stand die 52-jährige, leicht korpulente Ärztin dem technischen Fortschritt ansonsten doch manchmal etwas skeptisch gegenüber. Ihre tiefe, feste Stimme hallte durch den Saal.
Piep. »20. August, 20:25 Uhr. Sichtung des einen Leichnams vom Kleinen Bornhorster See, eingeliefert heute. Registrierungsnummer: 128256.8.2013. Gewebe- und Blutproben entnommen und zur Untersuchung ans Labor übergeben. Zur Person: männlich, weiß, braunes Haar, ungefähr 25-30 Jahre alt.« Piep. Ihr Blick glitt an der Kante des Tisches entlang zu einer digitalen Anzeige. Piep. »Gewicht 80 Kilogramm.« Piep.
Aufmerksam umrundete sie den Obduktionstisch und versuchte jedes noch so kleine Detail in sich aufzunehmen. Von Zeit zu Zeit trat sie einen Schritt näher an die Leiche heran und untersuchte mit behandschuhten Fingern den Körper, öffnete den Mund, untersuchte Augen, Ohren, strich die Haare zur Seite, begutachtete die Kopfhaut und entnahm Haarproben für eventuell notwendige Drogentests.
Piep. »Ein kleines Tattoo mit einer Rose auf dem Schulterblatt, ansonsten keine besonderen Auffälligkeiten oder Verletzungen, bis auf eine feine, längliche, etwa drei Millimeter breite Wunde, die über vier Finger der rechten Hand geht«, sagte Dr. Braun und ließ die Hand des Toten wieder auf den Tisch gleiten. Piep.
Mit einem gewaltigen Knall flog die Doppeltür von Saal 1 auf, eine Gestalt schlitterte in den weiß gefliesten Raum und konnte sich gerade noch aufrecht halten. Anke Frerichs war klatschnass. Sie schüttelte ihre blonde Mähne. Der kurze Weg vom Auto bis in die Rechtsmedizin hatte ausgereicht, sie bis auf die Knochen durchzuweichen. »Verdammtes Scheißwetter«, fluchte sie.
»Handtuch gefällig?« Ohne eine Antwort abzuwarten, reichte Dr. Braun ihr ein weißes Frotteehandtuch, das sonst zur Reinigung der Obduktionstische benutzt wurde.
»Danke«, antwortete Frerichs und begann sich die Haare trocken zu rubbeln.
»Vollmers?« fragte Dr. Braun knapp.
»Der kommt auch gleich, raucht noch eine«, sagte Anke unter dem Handtuch hervor.
»Das sollte er besser lassen, sonst liegt er schneller auf meinem Tisch, als ihm lieb sein wird«, sagte Dr. Braun.
Wie aufs Stichwort ging die Tür auf, und Vollmers trat ein. »Hallo Elena«, sagt er freundlich, während er seinen Schirm ausschüttelte und dann sorgfältig zusammenfaltete.
»Sei gegrüßt, Werner«, sagte Dr. Braun schmunzelnd, »komm doch rein. Hier ist es hell, warm und trocken. Man könnte sagen, hier ist Sommer!« Sie lächelte ihn an.
Vollmers verzog das Gesicht und zog seinen alten, zerknitterten grauen Hut vom Kopf. Gemeinsam gingen sie zu dem Tisch mit der Leiche. »Hast du schon eine Idee?« fragte er.
»Nicht wirklich. Zu diesem Zeitpunkt der Untersuchung ist es nur eine Vermutung. Nicht mehr als ein Bauchgefühl«, antwortete Elena Braun.
»Nun komm schon. Raus mit der Sprache. Ich werde dich nicht darauf festnageln.«
»Ich tippe auf Gift«, sagte sie. »Für mich sieht das aus, als ob der Tote in eine Mausefalle oder sowas Ähnliches gegriffen hätte. Bis auf die kleine geradlinige Wunde an der Hand hat er keine auffälligen Verletzungen. Nichts sonst weist auf eine Einwirkung von außen hin.«
Vollmers strich sich mit der Hand nachdenklich den Vollbart glatt, während Dr. Braun fortfuhr: »Die toxikologische Untersuchung läuft. Meine Assistentin sitzt nebenan bereits über den entnommenen Proben.« Sie deutete auf die Edelstahltür mit der Aufschrift Labor.
Durch das mit Milchglas versehene Fenster daneben konnte man schattenhaft eine Gestalt erkennen. Gelegentlich hörte man leise Geräusche, gefolgt von unterdrücktem Fluchen. Dr. Braun lächelte verschmitzt und zwinkerte den beiden zu.
»Dr. Barkemeyer ist sehr ehrgeizig. Sie wird schon herausfinden, welche Art Gift hier im Spiel war. Wenn es Gift war.«
»Okay, also heißt es abwarten«, sagte Anke Frerichs. »Und was ist mit ihm?« Sie deutete auf den Tisch daneben, auf dem ein Körper, der in einem weißen Leichensack steckte, lag.
»Zu dem bin ich noch nicht gekommen. Wenn Sie wollen, können Sie mithelfen. Dem Bericht nach«, Dr. Braun blätterte einige Seiten auf einem Klemmbrett, das auf dem Tisch neben der Leiche gelegen hatte, durch, »dürfte das eine relativ klare Sache sein.«
»Ich weiß«, antwortete Anke Frerichs leicht gereizt, »ich habe ihn ja selber eingetütet. Ich dachte nur, dass Sie vielleicht mehr entdecken würden. Vielleicht irgendwas, was uns weiterhilft.«
Dr. Braun sah verärgert über den oberen Rand ihrer Brille.
Vollmers trat neben seine Kollegin und legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm.
»Nun bleib mal ganz ruhig, Anke. Elena wird sich sicherlich gleich um den Guten kümmern. Weglaufen kann er uns ja nicht mehr.« Er zwinkerte Elena Braun zu. Sie lächelte zurück, ging zur gegenüberliegenden Wand, nahm ein paar frische Einweghandschuhe aus einem Spender und zog sie über. Dann nahm sie ein kleines Döschen mit intensiv riechender Creme von einem Regal und rieb sie sich unter die Nase. Sie hielt sie fragend den beiden Polizisten entgegen. Beide schüttelten den Kopf. Sie wussten aus Erfahrung, dass die Creme nicht wirklich etwas nützte.
»Ist eher so ein psychologisches Ding«, sagte Dr. Braun, die scheinbar die Gedanken der beiden Ermittler erraten hatte, »ich habe mich total dran gewöhnt.« Mit einem Schulterzucken stellte sie das Döschen zurück, nahm sich erneut das Klemmbrett und machte sich an die Arbeit.
Vorsichtig öffnete sie den Reißverschluss des Leichensacks. Ein Geruch nach Blut, Urin und beginnender Verwesung schlug den dreien entgegen. Vollmers und Frerichs wichen instinktiv einen Schritt zurück.
»Doch etwas von der Creme?« Dr. Braun grinste. Beide winkten dankend ab, mussten sich aber doch die Hand vor die Nase halten. Insgeheim war Vollmers froh, dass er sein Stofftaschentuch dabei hatte. Anke Frerichs musste sich mit dem Ärmel ihrer Jacke begnügen.
Dr. Braun wandte sich schmunzelnd ab und sprach direkt in Richtung Mikrofon, das über dem Tisch baumelte: »Aufnahme.«
Piep. »20. August, 20:45 Uhr. Sichtung des zweiten Leichnams vom Kleinen Bornhorster See. Eingeliefert heute. Registrierungsnummer: 128257.8. 2013. Noch keine Gewebe- und Blutproben entnommen. Zur Person: männlich, weiß, dunkelblondes, leicht schütteres Haar, ungefähr 30-35 Jahre alt. Gewicht: circa 85-90 Kilogramm.« Piep.
Dr. Braun zog den Leichensack, oder wie er im Zubehörhandel für Bestatter genannt wurde, die Verstorbenenhülle, Modell EVA, etwas zurück und legte den Leichnam weiter frei. Das Messer ragte immer noch aus seinem Hals. Braun ging um den Tisch herum zum Kopf des Opfers. Ein Gemisch aus Wasser und Blut lief über die glatte Edelstahloberfläche und verschwand leise gurgelnd im Abfluss.
Piep. »Ein Messer, auf den ersten Blick sieht es wie ein großes, aber handelsübliches Küchenmesser, wie es in Großküchen oder Kantinen verwendet wird, aus, steckt seitlich im Hals des Opfers.« Piep. Vorsichtig untersuchte sie die Wunde mit einem Instrument, das aussah wie ein kleines Skalpell. Dann griff sie nach oben, fingerte nach einem über dem Tisch baumelnden Schlauch, bekam ihn zu fassen und zog in zu sich hinab.
Sie betätigte einen kleinen Knopf, und Wasser schoss aus dem Schlauch hervor. Sie richtete den Strahl genau auf die Wunde und reinigte die Ränder. Als sie fertig war, ließ sie den Schlauch wieder an seine Position über dem Tisch zurückschnellen und widmete sich erneut der Einstichstelle.
Piep. »Das Messer wurde vermutlich von hinten angesetzt und hat die Halsschlagader glatt durchtrennt.« Piep. Mit einem schmatzenden Geräusch zog sie das Messer vorsichtig aus dem Hals und legte es auf eine Ablagefläche, die am Kopf des Tisches befestigt war, ab. Vollmers erinnerte diese Vorrichtung immer irgendwie an eine Ablagefläche, die an Grills angebracht ist, um dort das Grillgut abzustellen, bevor es auf den Rost kommt. Er schüttelte sich bei dem Gedanken daran.
Mit einem leisen Pfeifen entwichen übelriechende Fäulnisgase aus der Wunde. Es stank erbärmlich. Das war für Anke Frerichs zu viel. Sie lief würgend, mit vor den Mund gehaltener Hand aus dem Obduktionssaal. Durch die auf- und zuklappende Schwingtür konnte man ihr Würgen hören.
Vollmers blickte ihr hinterher und dann zu Dr. Braun. »Schickst du mir die Ergebnisse nachher vorab per Fax rüber?«
»Geht klar. Gib mir ein bis zwei Stunden, dann haben wir sicher etwas Brauchbares, mit dem ihr arbeiten könnt.«
»Danke, Elena«, sagte Vollmers.
Als er sich gerade umdrehen wollte, sagte sie leise: »Ist doch gut, wenn man sich an manche Dinge nicht gewöhnt, oder?«
Vollmers zuckte mit den Schultern, nickte kurz zustimmend und lächelte müde. Wortlos ging er zur Tür.
»Ach, Moment«, rief sie ihm hinterher, »da vorne links auf dem Tisch neben der Tür findest du zwei Tüten mit den persönlichen Sachen der beiden. Wenn du willst, kannst du sie direkt mitnehmen, andernfalls schicke ich sie euch auch gerne mit dem ganzen Papierkram zusammen rüber.« Vollmers nahm die beiden Beutel vom Tisch und verließ den Saal. Zum Abschied hob er dankend den Schirm und winkte damit über die Schulter. Ja, dachte er, an manche Dinge werde ich mich Gott sei Dank nie gewöhnen.