Freitagabend. Seit nunmehr fast 72 Stunden waren sie ununterbrochen auf den Beinen gewesen. Nur von einem kurzen Nickerchen auf der Couch im Büro unterbrochen, hatten sie Berichte gewälzt, Theorien aufgestellt und Zeugen befragt – leider ohne ein greifbares Ergebnis, geschweige denn den Hauch einer Spur. Frustriert hatte Vollmers sie ins Wochenende geschickt. Sie brauchten alle eine Pause.
Anke Frerichs parkte ihren silbernen Smart wie immer auf dem Bordstein direkt unter der Laterne von Haus Nummer 17. Sie wunderte sich immer wieder, wie sich in Gemeinschaften, seien sie auch noch so lose, über die Zeit Rituale und Gewohnheiten einstellten. So war es auch in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Wenn sich nicht gerade irgendein unwissender Besucher von außerhalb auf ihren Parkplatz verirrte, war er für sie reserviert. Als ob sich rumgesprochen hätte, dass sie bei der Polizei arbeitete.
Mit einem Aufleuchten der Blinker und einem unüberhörbaren Piepen signalisierte der kleine Flitzer, dass er sicher verschlossen und zur Nachtruhe bereit war. Freunde und Kollegen zogen sie immer wieder wegen ihres Autos auf. Knutschkugel, Einkaufswagen mit Motor oder Elchtränke. Am meisten beömmelten sich die Kollegen aber über die Typenbezeichnung am Stummelheck des kleinen Zweisitzers: »mhd«. Eigentlich bedeuteten die drei Buchstaben »MHD – Micro Hybrid Drive« und kennzeichneten die neumodische Start-Stopp-Automatik des kleinen Sparwunders. Doch spätestens seit ihr Kollege Enno Melchert die drei Buchstaben mit dem Begriff »MHD – Mindesthaltbarkeitsdatum« belegt hatte, war klar, dass der kleine Silberling ein Auto mit Verfallsdatum war. Manch ein Kollege wollte den Kleinen gar umkippen, um drunter gucken zu können, wo das Datum aufgedruckt war. Anke Frerichs musste bei dem Gedanken an einen großen Datumsaufkleber auf dem Unterboden schmunzeln. Sie liebte ihren Wagen, und das war die Hauptsache!
Sie überquerte die alte Straße mit ihrem Kopfsteinpflaster, öffnete das schmiedeeiserne Gartentor, stieg die ersten paar Stufen zur Eingangstür hinauf und schloss sie auf. Sie suchte nach dem Lichtschalter, griff daneben und musste erst ein paar Sekunden suchen, bis sie ihn dann endlich gefunden hatte.
Das Licht flammte auf, und sie stieg langsam die Stufen des steilen Treppenhauses zu ihrer Wohnung im zweiten Stock der alten Oldenburger Villa hinauf. Sie war total erschöpft und ausgelaugt. Die letzten Tage hatten an ihren Nerven gezerrt – und dann auch noch ihre absolut dumme Aktion vorhin im Museum. Um ein Haar wäre es um sie geschehen gewesen.
Oben angekommen, wollte sie gerade den Schlüssel ins Schloss ihrer Wohnungstür stecken, da zögerte sie. Etwas stimmte hier nicht. Die Tür war nicht verschlossen, sondern klapperte, nur leicht angelehnt, leise im Türrahmen. Vorsichtig drückte sie gegen die Tür. Geräuschlos schwang sie auf. Vor ihr lag der dunkle, quadratische Eingangsbereich, von dem alle weiteren Räume abzweigten. Sie war mehr als irritiert. Eigentlich hätte die Tür wie üblich lautstark quietschen und knarren müssen. Sie hatte sich immer wieder vorgenommen, sie zu ölen, aber war einfach nicht dazu gekommen. Doch die Tür war still geblieben. Instinktiv glitt ihre Hand an ihrer Hüfte entlang zu ihrer Dienstwaffe. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Licht fiel unter der Schlafzimmertür hindurch in den Flur. Jemand war in die Wohnung eingedrungen.
Mit einer flüssigen Bewegung löste sie die Lederschlaufe an ihrem Holster, zog die Heckler & Koch P2000 und entsicherte sie gleichzeitig. Vorsichtig drückte sie die Tür weiter auf und trat in den Flur. Soweit sie es erkennen konnte, stand noch alles an seinem Platz. Sie spähte vorsichtig ins Wohnzimmer. Nichts zu erkennen. Leise zog sie die Tür zu, damit sie kein Angriff von hinten überraschen konnte. Mit der zweiten Wohnzimmertür rechts daneben verfuhr sie genauso. Dann schlich sie langsam auf die Schlafzimmertür zu und horchte. Von innen konnte sie leise Geräusche vernehmen.
Anke Frerichs schloss die Augen, atmete durch und versuchte sich zu konzentrieren. Einen Moment lang überlegte sie, Verstärkung zu rufen, doch dann entschloss sie sich anders.
Mit einem Ruck riss sie die Tür auf und rief: »Stehen bleiben, Polizei!« Ihre Waffe war dabei direkt in die Mitte des Raumes gerichtet. Adrenalin pumpte durch ihren Körper.
Eine Gestalt in einem beigeblau gestreiften Pyjama-Hemdchen stürzte vom Bett zu Boden, eine Flasche Rosé-Wein zerbrach klirrend auf dem Parkett, und jemand schrie: »Verdammte Scheiße, spinnst du!«
Anke Frerichs ließ ihre Waffe sinken und sackte in sich zusammen. Vor ihr auf dem Boden lag ihre Lebensgefährtin Tanja Bremer.
Dieser beschissene Fall hätte beinahe sein viertes Opfer gefordert, dachte Anke Frerichs. Ich muss, muss, muss mich zusammenreißen, schalt sie sich innerlich, um sich zur Ruhe zu bringen.
Tanja starrte sie nur schweigend an.
Anke schloss kurz die Augen, steckte die Waffe wieder ins Halfter und ging zu ihrer Freundin hinüber. Dann setzte sie sich neben sie auf das Bett und umarmte sie liebevoll. Tanja erwiderte ihre Umarmung und drückte sie ganz fest an sich. Anke merkte nicht, wie ihr eine Träne über die Wange rollte. Auch von dem liebevoll dekorierten Schlafzimmer und dem vorbereiteten Picknick nahm sie nichts mehr wahr. Festumschlungen von ihrer Freundin schlief sie schließlich erschöpft ein.
Nach dem unschönen Vorfall am vorangegangenen Abend und einer unruhigen Nacht genossen Anke Frerichs und Tanja Bremer ihren gemeinsamen freien Tag. Sie durchstöberten ganz in Ruhe die Buchhandlung Hemmieoltmanns im Famila Einkaufzentrum in Wechloy nach neuem Lesestoff. Tanja, die als Kindergärtnerin arbeitete, liebte Krimis aller Art. Vor allem hatten es ihr Regionalkrimis angetan. Sie hatte mittlerweile alle Kluftinger-Romane, die in Bayern spielten, gelesen und war gerade auf die äußerst erfolgreiche Ostfriesen-Krimireihe von Klaus-Peter Wolf gestoßen, in der die Kommissarin Ann-Kathrin Klaasen aus Norden die Hauptrolle spielte.
»Du bist meine höchsteigene Ann-Kathrin Klaasen«, pflegte Tanja Bremer ihre Freundin zu necken. Anke Frerichs konnte dem nur wenig abgewinnen, kannte sie doch das wahre Leben und die mühsame und oft auch ausgesprochen langweiligen Aspekte der Polizeiarbeit. Sie stand mehr auf historische Romane und plattdeutsche Literatur, wie zum Beispiel die Bücher von Ina Müller. Schon oft waren sie bei Lesungen, Liederabenden oder plattdeutschen Theatervorstellungen im Heinrich Kunst Haus in Ofenerfeld gewesen und hatten die Abende in der gemütlichen Atmosphäre des kleinen Hauses genossen.
Jetzt freuten sie sich über die Ablenkung und den Trubel im Famila Center. Nun stand Shoppen und Entspannen an. Sie hatten bereits für den Abend frisches Gemüse eingekauft. Tanja wollte ihre Lieblingssuppe machen, eine Kartoffelcurrysuppe. Danach wollten sie mit ihren neuen Büchern und einem guten Weißwein einfach etwas auf dem Sofa liegen und entspannen, denn der Sonntag sollte noch anstrengend genug werden. Ein Familienbesuch stand an. Sie wollten Tanjas Mutter besuchen. Kaffee, Kuchen und Familientratsch. Sie konnten sich zwar Spannenderes vorstellen, aber der Termin stand schon seit langem – und eigentlich war es im Nachhinein auch irgendwie doch immer ganz schön.
Etwa dreißig Minuten später verließen sie die Buchhandlung mit einer prallgefüllten Einkaufstasche. Tanja Bremer hatte sich Ostfriesenmoor, das neueste Buch von Klaus-Peter Wolf, gekauft, Böses Spiel in Friesland von Theodor J. Reisdorf und einen brandneuen Oldenburg-Krimi aus dem Schardt Verlag. Anke hatte ebenfalls kräftig zugeschlagen und drei Bücher erworben, zwei plattdeutsche Bücher mit Kurzgeschichten und einen echten Klassiker, den Medicus von Noah Gordon. In Kürze sollte die Verfilmung ins Kino kommen. Anke Frerichs wollte vorher unbedingt noch einmal das Buch gelesen haben. Bevor sie sich auf den Weg zum Auto machten, kauften sie sich gegenüber noch ein Eis. Tanja liebte italienisches Eis. Für eine Kugel Pistazie konnte sie alles stehen und liegen lassen.
»Wollen wir noch zu Möbel Weirauch wegen dem schönen Sideboard, das du in der Werbung gesehen hast, oder lieber noch kurz auf einen Kaffee auf den Pferdemarkt?« fragte Anke ihre Freundin, während sie verzweifelt versuchte, die im Expresstempo dahinschmelzende Stracciatellakugel mit der Zunge daran zu hindern, den Innenraum und die Sitze des Smart komplett einzusauen.
Tanja Bremer legt den Kopf schief und dachte nach. »Hmm … ich denke … wir fahren … auf den Wochenmarkt! Ich habe Lust auf einen schönen Cappuccino bei der Kaffeefeuerwehr. Und außerdem können wir uns dann gleich noch ein paar leckere Antipasti und ein frisches Brot zur Suppe nachher mitnehmen.«
»Gute Idee«, sagte Anke Frerichs und startete den Wagen. »Dann muss das Sideboard eben bis nächste Woche warten.«
»Genau!« rief Tanja Bremer fröhlich, rutschte ein Stück nach links hinüber und gab ihrer Freundin einen schnellen Kuss auf die Wange.