Am Montagmorgen, es war 6:45 Uhr in der Früh, lag die druckfrische Nordwest-Zeitung vor ihnen auf dem Schreibtisch. Die außergewöhnlich reißerische Titelzeile Serienkiller tötet drei Menschen sprang ihnen förmlich entgegen.
Vollmers und Frerichs waren alles andere als begeistert von einem solchen Geschreibsel. Zusätzlich hatten sie in dieser Nacht wieder nur sehr wenig Schlaf bekommen. Drei Stunden und eine heiße Dusche mussten reichen. Nun standen sie mit zwei heißen, dampfenden Bechern Kaffee in der Hand vor der 2 x 3 Metern messenden Magnettafel in ihrem Büro und begutachteten die Informationen, die sie bisher zusammengetragen hatten. Viele waren es nicht.
Von kleinen blauen Magneten gehalten, klebten dort Tatort-Fotos, rechtsmedizinische Berichte, Fotos der Opfer und Listen von potenziellen Beweismitteln. Für den Laien sah es wie ein unzusammenhängender Wirrwarr aus. Und das war es zum jetzigen Zeitpunkt leider auch immer noch. Es gab keine Auffälligkeiten und keine Verbindung zwischen den Opfern. Auf den Punkt gebracht: Sie hatten nicht die kleinste Spur.
Der Leichenfund im Museum hatte die Situation nicht verbessert. Ganz im Gegenteil. Jetzt konnten sie wirklich jede Unterstützung gebrauchen.
Unruhig ging Vollmers vor der Tafel auf und ab. Anke Frerichs hatte es sich hinter ihm auf der Tischkante bequem gemacht und nippte an ihrem Kaffee. Aus dem Radio wehte Biscaya von James Last durch den Raum. Wie immer lief NDR1, der Lieblingssender von Vollmers, an den sich mittlerweile sogar Anke Frerichs und ihr Kollege Enno Melchert gewöhnt hatten. Sie wechselten ihn nicht einmal mehr selbst, wenn der Chef nicht da war.
»Hast du Enno schon kontaktiert?« fragte Vollmers, ohne sich zu Anke umzudrehen. »Ich denke, wir brauchen ihn hier.«
»Ja, ich habe ihm auf seine Mailbox gesprochen, eine SMS und eine E-Mail geschickt.«
»Gut«, antwortete Vollmers, nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee und wiegte den Becher nachdenklich in der Hand hin und her.
Anke Frerichs ergriff das Wort: »Also gut, wir haben bisher drei Tote, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, außer dass sie aus dem Großraum Oldenburg kommen. Wo setzen wir an? Hast du eine Idee?«
Vollmers drehte sich langsam um, sein Rücken machte ihm wieder zu schaffen. Verkrampfungen. Anspannung äußerte sich bei ihm so.
»Wir haben drei Leichen. Zwei, die durch Gift getötet wurden, eine mit einem Messer. Ich würde sagen, die ersten zwei wurden mehr oder minder geplant getötet, und der mit dem Messer im Hals ist lediglich Beifang oder als Kollateralschaden zu bezeichnen. Der war nicht geplant. Da muss irgendwas schiefgelaufen sein. Vielleicht wurde der Täter überrascht, oder jemand war zu früh oder zu spät an einem vereinbarten Treffpunkt.«
»Oder er war einfach nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort«, warf Anke Frerichs ein.
»Wahrscheinlich. Möglich ist das«, stimmte Vollmers zu.
»Und das Motiv? Warum tut er das?«
»Ich weiß es nicht, vielleicht möchte er auf sich aufmerksam machen, gesehen werden? Unser Täter ist möglicherweise ein zutiefst verletztes Wesen. Er leidet schon sehr lange. Vielleicht wurde er in seiner Kindheit vernachlässigt, missbraucht oder ist auf Grund seiner Optik oder einer anderen Auffälligkeit von seinen Mitschülern geärgert oder gemobbt worden. Wenn sich sowas über Jahre fortsetzt, kann das zu einem Trauma führen.«
»Möglich«, stimmte Anke Frerichs zu. »Bleiben uns als Ansatzpunkt also zunächst nur die beiden anderen Opfer. Hier ist die gemeinsame Verbindung die Todesursache Gift.«
»Genau«, nickte er. »Gift ist nicht gerade eine der populärsten Tötungsarten.«
»Außer bei Beziehungstaten«, gab Anke Frerichs zu bedenken.
»Stimmt, aber das hier sieht mir irgendwie nicht nach einer aus. Zumindest konnten wir bisher keine Beziehung zwischen den Opfern herstellen. Nach dem bisherigen Stand der Dinge kannten sie sich weder, noch standen sie irgendwie anders miteinander in Verbindung.«
»Wir sollten uns zunächst auf das Gift konzentrieren. Dr. Braun hat doch irgendwas von Pfeilgift erwähnt. Sicherlich wird sie uns dazu in Kürze mehr sagen können. Das müssen wir abwarten. In der Zwischenzeit recherchierst du im Archiv, was wir hier in den letzten Jahren an giftbedingten Todesfällen hatten, und ich setze mich mit der Giftnotrufzentrale in Göttingen in Verbindung und versuche da eine Liste über Vergiftungen und Todesfälle mit Gift zu bekommen. Die führen doch mit Sicherheit auch irgendwelche Statistiken oder Fallakten.«
»War eigentlich schon jemand bei den Angehörigen des dritten Opfers?«
»Ja, beziehungsweise nein. Hanna Bolt war Single, und ihre Eltern befinden sich zurzeit im Urlaub. Dummerweise auf einer Safari in Südafrika. Man hat eine Nachricht im Hotel hinterlassen. Wir warten auf ihren Rückruf.«
»Okay, dann mal an die Arbeit. Jetzt heißt es Akten wälzen.« Fast den ganzen restlichen Tag verbrachten sie mit Recherche, Telefonaten und dem Versuch, eine Verbindung zwischen den Opfern herzustellen. Der Kaffee floss in Strömen, und aus der sonst üblichen Schachtel Zigaretten wurden zwei. Doch so sehr sie sich auch bemühten und sich den Kopf zerbrachen, sie kamen keinen Schritt weiter. Frustriert gingen sie in den Feierabend, nicht ahnend, dass es schon sehr bald ein weiteres Opfer geben würde.