Friedhofsweg 30. Am frühen Nachmittag öffnete sich die Tür des Büros der drei Ermittler, und der Kopf von Ralf Petershagen, dem Kollegen aus dem Dezernat für Sexualdelikte, erschien im Türrahmen.
»Wallander nicht da?« fragte er grinsend.
»Ist zu Brockshus, Kuchen holen«, antwortete Enno Melchert, ohne auf seinen Witz einzugehen. Petershagen nannte Vollmers immer so, weil er genau wie der schwedische Romankommissar von Henning Mankell das gleiche Auto, einen Saab, fuhr und in Kollegenkreisen als mindestens ebenso verschroben galt wie dieser.
»Mist. Der hätte ja auch mal fragen können. Ne schöne Donauwelle wäre jetzt echt nicht schlecht.« Petershagen trat ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
»Schick ihm doch ne SMS, vielleicht hast du ja Glück«, warf Anke Frerichs ein, die vor einem riesigen Stapel Akten saß und auf einem Kugelschreiber kauend gelangweilt aufsah.
»Mal was anderes. Kommt ihr heute eigentlich mit zum Stadtfest? Wir wollen mit ein paar Kollegen erst was essen gehen und dann auf ein paar Bierchen in die Stadt.«
Enno Melchert drehte sich um. »Ist schon wieder Stadtfest? Hammer. Also ich hätte wohl Lust. Wie sieht es mit dir aus?«
Anke Frerichs zog ihren Terminplaner aus der Tasche und blätterte suchend darin hin und her, dann sagte sie: »Okay, das geht. Tanja muss erst arbeiten und kommt dann später nach. Wir wollen noch ins Between the sheets einen Cocktail schlürfen. Freundinnen von uns, Christina und Nicole, legen heute dort auf. Passt!«
»Vollmers?«
»Machst du Witze? Den kriegen doch keine zehn Pferde aufs Stadtfest. Zu voll, zu eng und zu laut – und außerdem gibt es kein Clausthaler Alkoholfrei.« Melchert grinste.
»Okay, dann um 19 Uhr bei Franz.«
»Cool, lecker Steak essen«, freute sich Enno Melchert. Das Steakhaus gegenüber vom Pferdemarkt war sein Lieblingsrestaurant.
Während Enno Melchert und Anke Frerichs im Büro noch über Akten brüteten und im Internet recherchierten, lenkte Werner Vollmers seinen anthrazitfarbenen Saab durch die Nadorster Straße zurück in Richtung Präsidium. Auf dem Rücksitz lagen eine ganze Platte Butterkuchen, zwei Stück Donauwelle und ein großes Stück Bienenstich mit Cremefüllung. Vollmers liebte Butterkuchen. Er hatte ein echtes Faibel für guten Kuchen. Warum wussten nur die wenigsten. Nicht einmal die engsten Kollegen ahnten, dass Vollmers, bevor er damals zur Polizei gekommen war, zunächst eine Ausbildung zum Konditor absolviert hatte, sich dann aber aufgrund einer Wespenallergie beruflich umorientieren musste. Seine Vorliebe für Kuchen war ihm aber über die Jahre geblieben. Deswegen nahm er gern den Weg zur Konditorei Brockshus auf sich.
Wie beiläufig zogen die Geschäfte der Nadorster Straße an ihm vorbei: Porzellan Voss, das Hörstudio Siefken, der Tauchertreff von Martin Schlifski, McWok und schließlich die Firma Willers. Laternenmasten mit diversen Plakaten kündigten neben dem alljährlichen Stadtfest die bald anstehenden Bundestagswahlen an. Die Ampel sprang auf Rot. Vollmers ignorierte die grinsenden Politiker auf den Plakaten und verfolgte nachdenklich das Treiben vor der Drogenberatungsstelle Rose 12 auf der gegenüberliegenden Seite. Unzählige Gestalten bevölkerten den Gehsteig, grölten, krakeelten und zankten sich dort. Fahrräder versperrten den Fußweg. Plötzlich kippte eines um, ein auf dem Gepäckträger befestigter Eimer fiel auf die Straße, und weiße Farbe ergoss sich auf den Bürgersteig. Niemand kümmerte sich darum. Als die Ampel auf Grün sprang, trat er wütend aufs Gas und machte ein halsbrecherische Kehrtwendung nach rechts, bog in die Alexanderstraße ein und beschleunigte. Die Gertrudenkapelle stand unbeeindruckt da und trotzte der Zeit. Zwei in schwarzes Leder gekleidete Mitglieder eines Motorradclubs, der an der Alexanderstraße sein Vereinsheim hatte, schauten dem qualmenden Diesel irritiert hinterher.
Etwa zur gleichen Zeit war Gabriele Vollmers in ihrem gemeinsamen Haus in Metjendorf damit beschäftigt, das Abendessen für sich und ihren Mann vorzubereiten. Sie saß im Wohnzimmer. Der Fernseher lief, und in der Küche dudelte NDR1 vor sich hin, während sie mit einem Tuch über den Knien Kartoffeln für die Gemüsesuppe würfelte, die sie kurz zuvor beim Edeka Am Stadtrand besorgt hatte. Sie hatte die knapp zwei Kilometer ins »Ausland« – nach Ofenerdiek – wie immer mit ihrem mittlerweile fast zwanzig Jahre alten blauen Polo zurückgelegt.
Sie amüsierte sich gerne über ihre eigenartige Wohnsituation. Sie wohnten ja hier in Metjendorf »offiziell« im Ammerland und gehörten komischerweise zu Wiefelstede, obwohl sie wiederum eine Oldenburger Vorwahl hatten und die Stadtgrenze zu Oldenburg keine dreihundert Meter Luftlinie entfernt lag. Gabriele Vollmers war es eigentlich gleich, doch im Herzen fühlte sie sich schon immer mehr als Oldenburgerin denn als Ammerländerin.
Die Nachrichten des Friesischen Rundfunks hatten gerade begonnen. Auch hier wurde über die Morde in Oldenburg berichtet.
Zu Hause sprachen Werner und Gabriele Vollmers nicht viel über seine Fälle und die Arbeit; er wollte seine Frau nicht unnötig beunruhigen, doch das funktionierte leider aufgrund der fast allgegenwärtigen Medien heutzutage nicht mehr besonders gut.
Gerade hatte der höchstens 25-jährige Nachrichtensprecher mit einem ordentlich gezogenen Linksscheitel und der bedeutungsschweren Miene eines ambitionierten Laienschauspielers seinen Bericht über die zu erwartende schlechte Ernte beendet, als das Telefon klingelte. Gabriele Vollmers zuckte wie sooft kurz zusammen, aus Angst, es könnte irgendwann einmal ein Kollege vom Präsidium mit der schlechten Nachricht sein. Aber die Nummer auf dem Display war Gott sei Dank nicht die vom Präsidium. Es war ihre Schwester aus Bremen. Erleichtert drückte sie den Annahmeknopf.
»Was ist denn da bei euch los?« tönte es ohne Vorwarnung aus dem Hörer. »Ich hab gerade die Nachrichten gesehen. Ein Serienkiller in Oldenburg? Hat Werner schon eine Spur?«
Gabriele Vollmers atmete tief durch, legte das Kartoffelschälmesser beiseite und machte sich auf ein längeres Telefonat gefasst.
»Haben wir schon etwas über den jungen Mann aus Ohmstede herausgefunden?«
»Leider nur sehr wenig.« Anke Frerichs stellte ihren Kuchen beiseite und blätterte in einem Schnellhefter, den sie von einem der Stapel auf ihrem Schreibtisch genommen hatte. »Claas Thiessen war alleinstehend, kein Freund oder Freundin, und wohnte in Nadorst in der Bürgerstraße 57. Beide Eltern sind bereits seit einigen Jahren tot.« Sie blätterte weiter. »Er hat als Verkäufer bei Willers in der Nadorster Straße 6 gearbeitet.«
»Dem Werkzeugladen gegenüber vom Gertrudenfriedhof?« fragte Werner Vollmers. »An dem bin ich gerade vorbeigefahren.«
»Richtig, Werkzeug, Berufsbekleidung und Sicherheitstechnik. Männerspielzeug halt«, ergänzte Enno Melchert grinsend, mit von der Donauwelle geschwärzten Zähnen.
»Na, na, na, mal langsam, Jungs. Männerspielzeug? Selbst ist die Frau.« Anke Frerichs hob demonstrativ den rechten Arm und zeigte ihren Bizeps.
»Uuuuh, Muskeln wie ein Spatz Krampfadern«, neckte Enno sie. Im Spaß holte sie mit dem Schnellhefter aus, um ihm eins überzuziehen.
Vollmers rief sie zur Räson: »Ist gut nun. Weiter, bitte.«
Anke Frerichs schlug den Schnellhefter erneut auf und fuhr fort: »Laut den Kollegen, die bei Willers nachgefragt haben, war Thiessen ein sehr netter und kompetenter Mitarbeiter. Er war bei allen Kunden und seinen Kollegen sehr beliebt, aber ansonsten eher ein Einzelgänger. Über Hobbys oder sonstige Freizeitaktivitäten war nicht viel rauszubekommen, außer dass er in den Pausen immer irgendwie mit seinem Handy in Gange war. Alles in allem nichts Besonderes.«
»Also in dieser Richtung scheint nicht viel zu holen zu sein. Ermittlungstechnisch sieht das, was Thiessen als Person betrifft, nach einer Sackgasse aus.«
»Was mir nicht klar ist: Was wollte der überhaupt?«
»Drogen?«
»Nein, sein Drogentest war negativ.«
»Vielleicht war er ein kleiner dreckiger Dealer?«
»Glaube ich nicht. Seine Kollegen haben nichts in dieser Richtung erwähnt. Nicht mal ansatzweise.«
»Bleibt da bitte trotzdem dran. Versucht etwas über ihn rauszufinden. Vielleicht findet ihr ja was bei Google oder Facebook. Wir brauchen einen Grund.«
»Sonst bleibt uns nur der Zettel, der am Tatort gefunden wurde.«
»Sind wir damit schon weiter?« wollte Enno Melchert wissen.
»Nicht wirklich. Die Rechtsmedizin arbeitet noch dran. Sie versuchen die Zahlenkolonne zu entschlüsseln beziehungsweise ihr irgendeinen Sinn oder Zweck zuzuordnen. Wir müssen abwarten, was da kommt.« Leicht resigniert legte Anke Frerichs den Schnellhefter zur Seite und setzte sich auf die Ecke ihres Schreibtisches. Vollmers und Enno Melchert saßen minutenlang schweigend da, dann stand Vollmers auf.
»Lassen wir es für heute gut sein.« Umständlich zog er seinen Anorak an und setzte seinen Hut auf. Fast an der Tür angekommen, wühlte er bereits in seinen Taschen herum, auf der Suche nach einer Zigarette. »Morgen sehen wir weiter …«
Dann verließ er das Büro und steckte sich bereits eine Boston an, noch während er die Tür hinter sich zuzog.