Der nächste Morgen. Vollmers, Frerichs und Melchert hatten in der Nacht kaum ein Auge zugetan – aus den unterschiedlichsten Gründen. Vollmers hatte der Fall nicht zur Ruhe kommen lassen und die anderen beiden das Stadtfest. Sehr früh hatten sie sich in ihrem Büro am Friedhofsweg trotz der Müdigkeit eingefunden. Für den Moment war jeder mit seinen Angelegenheiten und Aufgaben beschäftigt. Anke Frerichs und Werner Vollmers wälzten Aktenberge, während Enno Melchert unruhig im Raum hin und her tigerte und mit einigen der persönlichen Gegenstände hantierte, die bei den Leichen gefunden wurden. Das Rechtsmedizinische Institut hatte mittlerweile auch die Sachen von Claas Thiessen rüberbringen lassen. Es war nichts Besonderes dabei: Portemonnaie, Handy, Schlüssel, eine Packung Fishermen’s Friends und zwei Kondome.
Plötzlich rief Enno: »Das ist es!« Schwungvoll ließ er sich auf seinen Bürostuhl sinken und rollte damit quer durch den Raum hinüber zu seinem Computer. Mit der rechten Hand gab er der Maus einen Stups, und der vorher noch schlafende Monitor erwachte zum Leben.
Er klickte auf das kleine Icon des Internet Explorers, das mittig auf seinem Desktop platziert war, um so möglichst schnell und unkompliziert die Verbindung zum Internet herstellen zu können. Seine Finger huschten über die Tastatur, als er in kurzer Folge diverse Suchbegriffe und Befehle in den PC hämmerte. Das Jagdfieber hatte ihn befallen. Er war der Lösung auf der Spur.
Nach etwas Recherche und ein paar Sackgassen aktivierte er schließlich einen Link mit der Endung .com. Die Seite aus Übersee baute sich langsam auf. Frerichs und Vollmers waren mittlerweile neben ihn getreten und starrten gespannt auf den Bildschirm. Eine grün-beigefarbene Website baute sich vor ihren Augen auf. Oben links sprang ihm ein kleines viereckiges Logo, das in vier farbige Teile unterteilt und mit einer gestrichelten Linie, einer Fahne und einem Männchen dekoriert war, entgegen. In großen schwarzen Buchstaben stand das Wort GEOCACHING daneben.
Triumphierend sagte Melchert: »Darf ich vorstellen: www.GEOCACHING.com – The Official Global GPS Cache Hunt Site – die wohl größte Internetseite zum Thema Geocaching überhaupt!«
Die beiden Kommissare sahen ihren Kollegen nur fragend an. Sein breites Grinsen erlahmte. Schnell drehte er sich wieder zurück zum Bildschirm und drückte ein paar Tasten. Sekundenbruchteile später begann ein neben dem Monitor stehender Tintenstrahldrucker einen Screenshot auszuspucken. Als das Blatt vollständig ausgedruckt war, riss Melchert es aus dem Papierausgabeschacht, ging damit hinüber zur großen Pinnwand und heftete es in die Mitte der Tafel.
Er räusperte sich. »Ähm, äh, ich glaube, das hier«, er deutete auf den Ausdruck hinter sich, »ist der Schlüssel zu allem. Das ist des Rätsels Lösung! Das ist die Verbindung zwischen den Opfern.«
Vollmers und Frerichs verstanden noch immer nicht.
»Lass uns nicht länger im Dunkeln stehen«, fuhr ihn Vollmers gereizt an. »Erklär es uns!«
»Also gut«, sagte Melchert und straffte die Schultern. »Es ist und war eigentlich ganz einfach. Wir haben eine Verbindung zwischen den Opfern gesucht, eine Übereinstimmung – das System, nach dem der Täter seine Opfer auswählt, richtig?«
»Ja, richtig«, raunzte Anke Frerichs ihn an. »Das ist doch klar. Halte uns hier keinen Vortrag über die Grundlagen von Polizeiarbeit. Sag uns, was dir aufgefallen ist und wo der Zusammenhang besteht.«
Jetzt grinste Melchert erneut. Er kostete den Moment voll aus, dann antwortete er: »Wir konnten kein System finden. Er wählt seine Opfer nämlich nicht bewusst beziehungsweise gezielt aus. Sie suchen sich ihn aus. Oder besser gesagt, sie gehen ihm in die Falle.«
»Er wählt seine Opfer nicht aus, das heißt, er tötet beliebig?«
»Das könnte man so sagen«, stimmte Enno Melchert zu.
Anke Frerichs musste sich setzen. »Dieses Schwein! Dem ist völlig egal, wen er tötet?«
»Ja«, antwortete Melchert knapp.
»Das würde ihn umso gefährlicher machen!« Vollmers durchlief ein Schaudern. »Wir haben es hier also nicht mit dem Typ Jäger zu tun – unser Kandidat ist ein Fallensteller?«
Enno Melchert nickte.
»Das muss ich erst mal verdauen. Das rückt die Situation natürlich in ein ganz anderes Licht. Wir müssen nun ganz anders an die Sache rangehen. Es könnte also jeden treffen, richtig?« sagte Vollmers.
»Nicht ganz. Ja und nein«, antwortete Enno Melchers. »Ich erklär euch erst mal, was ich herausgefunden habe. Also: Es gibt seit einiger Zeit, genauer genommen ungefähr seit dem Jahr 2000, einen neuen Trend, der sich Geocaching nennt. Unter Geocaching müsst ihr euch so etwas Ähnliches wie eine moderne Schnitzeljagd oder die Jagd nach einem verborgenen Schatz« – bei dem Wort »Schatz« ahmte er mit beiden Händen in der Luft die Gänsefüßchen nach – »vorstellen. Kurz gesagt: Jemand versteckt irgendwo auf der Welt irgendwas – und jemand anders macht sich mit einem GPS-Gerät bewaffnet auf die Suche danach. Die Koordinaten dazu, um das Versteck aufzustöbern, findet er auf solchen Internetseiten wie zum Beispiel www.geocaching.com.«
Vollmers und Frerichs nickten. Sie hatten verstanden.
»Und dann?« fragte Anke Frerichs. »Was macht man, wenn man so einen ›Schatz‹ gefunden hat?«
»Man hinterlässt eine Nachricht. Wie wir im Fall des Mordes in Ohmstede gesehen haben, ist der Schatz in der Regel natürlich kein richtiger Schatz von Wert oder Bedeutung, sondern – wie in diesem Fall – nur ein kleines, wasserdichtes Röhrchen mit einem sogenannten Logbuch darin. Hier trägt der Finder seinen Namen, das Datum und einen Kommentar ein und legt den auch Cache genannten Schatz wieder zurück in sein Versteck, damit ihn der nächste Geocacher finden kann. Und so geht das dann weiter.«
»Verstehe.« Anke Frerichs nickte.
»Meistens gibt der Geocacher dann auch noch auf der Website, über die er die Koordinaten bezogen hat, einen kleinen Kommentar zu dem Cache ab«, fuhr Enno Melchert fort.
»Quasi als Erfolgsmeldung?«
»Richtig!«
»Man gibt zum Beispiel an, ob der Cache leicht oder schwer zu finden war, oder wenn irgendwas Besonderes auf der Suche passiert ist, oder Infos über das Wetter, die Jahreszeit, Muggel oder …«
»Also Erfolgsmeldung und Erfahrungsbericht?« fragte Anke Frerichs.
»Jupp! Genau so.«
»Muggel? Was sind denn nun wieder Muggel?« fragte Vollmers.
»Das sind Menschen wie ihr«, Enno zeigte auf Vollmers und Frerichs, »Menschen, die nichts mit Geoaching am Hut haben. Uneingeweihte quasi. Der Begriff soll wohl irgendwie witzig sein. Er kommt aus den Harry Potter-Büchern. So nennen die Zauberer die normalen Menschen!«
Vollmers schüttelte den Kopf, dann sagte er: »Okay, das habe ich soweit verstanden, aber wie bist du auf das Thema Geocaching gekommen beziehungsweise wie passt das zu unserem Fall? Wo ist die Verbindung?«
Erneut erschien ein breites Grinsen auf dem Gesicht von Enno Melchert.
»Lass dich doch nicht so auf die Folter spannen. Erzähl schon!« drängelte Anke Frerichs.
»Ist ja gut. Lass mir doch den kleinen Triumph«, grinste er. »Es lag eigentlich die ganze Zeit vor unseren Augen und war doch unsichtbar. Ich habe mir die Inventarlisten unserer Opfer noch mal vorgenommen. Der Grundstein meiner Theorie war das GPS-Gerät, das wir in dem Zelt am Kleinen Bornhorster See gefunden haben. Zunächst habe ich ihm keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Ein GPS-Gerät bei einem Wanderer oder jemandem, der zeltet, ist nichts Außergewöhnliches.«
»So weit, so gut. Mach hin. Wie bist du nun darauf gekommen?« Vollmers wurde unruhig.
»Okay, okay, ich mache es kurz. Bei den Opfern haben wir Smartphones gefunden. Genau genommen ein Nokia und zwei iPhones von Apple.«
»Und?«
»So kam der Stein ins Rollen. Als ich das iPhone vom zweiten Opfer, diesem Tonno, einschaltete, startete automatisch eine App. Und das war eine Geocaching-App.«
»Eine was?«
»Eine App. Eine Applikation. So nennt man kleine Programme fürs Handy. Mit nur einem Knopfdruck lassen sich so komplizierte und mehr oder weniger nützliche Anwendungen ausführen, zum Beispiel Kalenderfunktionen. Wo finde ich den nächsten Briefkasten? Navigationssysteme, Kontaktdaten und und und. Es gibt mittlerweile unendlich viele Apps.«
»Du hast recht«, Anke Frerichs schlug sich mit der flachen Hand vor den Kopf. »In den Dingern sind mittlerweile fast überall auch GPS-Empfänger zur Ortung eingebaut, richtig?«
Enno nickte und grinste noch breiter.
»Lass mich raten«, schaltete sich Vollmers ein, »du hast dann auch auf den anderen Telefonen diese Apps gefunden?«
»Jawohl!« antwortete Melchert und schlug sich selbst anerkennend auf die Schulter.
»Ja, ja, ist ja gut! Hast du gut gemacht. Braves Enno!« neckte ihn Anke Frerichs.
»Gut gemacht.« Vollmers nickte ebenfalls anerkennend. Viel mehr Lob war von ihm nicht zu erwarten. Sofort ging er wieder zur Tagesordnung über. »Also gut, wir haben herausgefunden, was die Opfer verbindet und wie sie in die Falle gelockt werden, aber was fangen wir jetzt damit an? Wie kriegen wir das Schwein?«
Enno ergriff das Wort: »Ich rufe Bert Neuhaus an. Den kenne ich noch von der Polizeiakademie. Er unterrichtet da. Sein Fachbereich ist Cyber-Kriminalität. Soweit ich mich erinnere, kennt der sich mit dieser Szene recht gut aus. Vielleicht kann der uns ein paar nützliche Tipps geben.«
»Gute Idee, aber ruf nicht an – fahr hin, schnapp ihn dir persönlich. Bis zur Bloherfelder Straße sind es höchstens zehn Minuten.« Vollmers sah auf die Uhr. »Die Sache eilt. Wer weiß, wie viele Fallen im Moment noch aktiv sind. Jede Minute kann es weitere Tote geben.«
Enno Melchert nickte. Er riss seine Jacke von der Stuhllehne und eilte aus dem Büro.
»Soll ich mitfahren?« fragte Anke Frerichs. »Nein, ich brauche dich hier. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um weitere Opfer zu vermeiden.«