Die Druckmaschinen bei WE-Druck in der Wilhelmshavener Heerstraße 270, wo jeden Tag die aktuelle Nordwest-Zeitung gedruckt wurde, liefen auf Hochtouren. Die nächste Ausgabe musste fertig werden. Man war in Verzug. Kurz nach dem eigentlichen Redaktionsschluss hatte man aus der Peterstraße noch brandheiße News hinterhergeschickt und den Druckvorgang, der bereits angelaufen war, gestoppt. Jetzt musste die verlorene Zeit wieder aufgeholt werden. Die mit Höchstgeschwindigkeit durch die kilometerlange Druckmaschine laufenden Druckfahnen waren zum Zerreißen gespannt. Auf dem Titel prangte jetzt eine neue Titelzeile:
Mord in der Lamberti-Kirche. Serienkiller schlägt erneut zu.
Der Text darunter beschrieb den Leichenfund bis ins kleinste Detail und gab sehr präzise wieder, was sich danach auf dem Marktplatz zugetragen hatte. Dutzende von Polizei-, Kranken- und der Leichenwagen hatten den ansonsten von Marktbeschickern genutzten Platz zu einem Jahrmarkt des Schreckens werden lassen. Schaulustige und Gaffer drängten sich vor der Kirche. Ein Foto von einem sichtlich mitgenommenen Enno Melchert, dem verstört dreinblickenden Küster und dem Abtransport der Leiche im Hintergrund zierte den Artikel. Auf der Folgeseite dokumentierte eine Zusammenfassung die Geschehnisse der letzten Tage. Ein kleines, schon älteres Archivbild wies Werner Vollmers und Anke Frerichs als leitende Ermittler aus. In einem Kurzinterview mit dem Oldenburger Staatsanwalt drückte dieser zwar sein tiefstes Bedauern und Mitgefühl aus, sprach dem Ermittlerteam aber sein ausdrückliches Vertrauen aus und ermahnte zur Ruhe. Auf Seite drei folgte ein ausführlich bebilderter Artikel über die Lamberti-Kirche und ihre Geschichte:
Das Wahrzeichen Oldenburgs entweiht: Die Geschichte der St. Lamberti-Kirche
Viel musste sie während ihrer langen Geschichte erdulden. Mit ihren prägnanten fünf Türmen erhebt sich die St. Lamberti-Kirche am Oldenburger Markplatz. Erbaut zwischen 1155 und 1234 als romanische Saalkirche wurde sie mehrfach umgebaut. Heute lässt der erste äußere Eindruck beispielsweise nicht die sehenswerte, dem römische Pantheon nachempfundene Rotunde vermuten, die Besucherinnen und Besucher im Inneren erwartet und die zu einer der wenigen in Deutschland gehört. Die wechselvolle Geschichte der Kirche beginnt mit dem Umbau zwischen 1377 und 1531 von einer Saalkirche zu einer gewölbten, dreischiffigen gotischen Hallenkirche. Doch in den folgenden 250 Jahren verfiel sie zunehmend. Zwischen 1791 und 1794 ließ man daher in das baufällige Gemäuer eine neue klassizistische Rotunde mit Eingangshalle setzen. Der damalige Herzog Peter Friedrich Ludwig brachte diesen Stil mit nach Oldenburg; er kümmerte sich auch persönlich um die Bauarbeiten an der St. Lamberti-Kirche. Doch bereits ab 1873 wurde die tempelartige Kirche mit Satteldach und ohne Glockenturm nochmals umgebaut. Um die klassizistische Rotunde wurde die noch heute bestehende neogotische Ummantelung gebaut sowie der 86 Meter hohe Glockenturm und vier weitere Türme an den Ecken errichtet. Um den Einbau der Orgel zu ermöglichen, musste 1968 der Haupteingang verlegt und der Innenausbau entsprechend angepasst werden. 2007 wurde die Kirche in der originalen klassizistischen Farbgebung restauriert, die Kapelle wurde zurückgebaut zum Vestibül, die Särge von Graf Anton Günther und seiner Frau sind in die Kirche zurückgekehrt, und auch die Kenotaphe zur Erinnerung an den letzten Grafen und den ersten Herzog fanden wieder ihre angestammten Plätze. Im Ostteil sind neue Räume entstanden, darunter im 1. Stock der große Lambertus-Saal in der neugotischen Apsis der Kirche.[1]
Ein Kommentar von Chefredakteur Herbert Eggers:
Vier unschuldige Menschen sind in den letzten Tagen ermordet worden, sind einem skrupellosen Mörder zum Opfer gefallen. Und was tun unsere Ordnungshüter?
Ergebnisse bisher – Fehlanzeige. Und nun das: Das Oldenburger Wahrzeichen, ein Rückzugsort der Schutz verheißen soll, von einem abscheulichen, schamlosen Verbrecher entweiht. Was mag das bloß für ein Mensch sein, dem nichts heilig ist, was für ein krankes, verstörtes Wesen muss einem innewohnen, das nicht einmal vor dem Haus Gottes Respekt hat? Was auch immer das Opfer Gerd Wanger in der Lamberti-Kirche gesucht hat, gefunden hat er nur den Tod. Interessante Fragen tun sich auf, müssen gestellt werden. Was wollte er dort? Und warum war die Polizei so schnell vor Ort? Einen Notruf scheint es nicht gegeben zu haben. Bleibt zu hoffen, dass die Polizei bald die richtigen Antworten findet.
Ansonsten, Gott steh uns bei –- und wenn’s schon nicht in seinen eigenen vier Wänden klappt, dann hoffentlich wenigstens außerhalb, in unserem schönen Oldenburg. (egg)
Anke Frerichs parkte ihren Smart am Straßenrand vor dem Fernsehhaus Waringer und Müller, direkt gegenüber vom Eingangsbereich des Kulturzentrums Ofenerdiek, in dem heute eine Lesung von Klaus-Peter Wolf stattfand. Wie in den letzten Jahren auch promotete er hier in der ehemaligen Kirche, die vor einigen Jahren zu einem Veranstaltungszentrum umfunktioniert wurde, sein neues Buch. Das neuste Werk trug den Namen Ostfriesenmoor, und Anke Frerichs hatte ihrer Freundin versprochen, sie nach der Veranstaltung abzuholen. Nach den Vorfällen am Cäcilienplatz und in der Lamberti-Kirche wäre sie zwar lieber nach Hause gefahren, aber sie wollte Tanja nicht enttäuschen. Zu oft schon musste sie Verständnis für Ankes außergewöhnlichen und beziehungsbelastenden Beruf haben. Deswegen war sie hier und wartete.
Es war mittlerweile fast elf und bereits dunkel. Ein Bus überholte langsam und hielt an der vor ihr liegenden Bushaltestelle. Nur eine ältere Dame stieg aus dem Bus und ging leicht schlingernd Richtung LzO davon. Anke blickte ihr nach, ohne sie richtig zu sehen.
Die Türen des KO, wie das Kulturzentrum auch genannt wurde, waren immer noch geschlossen. In diesem Jahr hatte Klaus-Peter anscheinend ganz besonders viel zu erzählen. Für Tanja Bremer waren seine Lesungen echte Highlights und ein Muss. Anke Frerichs blickte erneut auf ihre Armbanduhr, da piepte das Handy.
Sie kramte es hervor und warf einen Blick aufs Display. Eine SMS von Enno Melchert. So spät noch?
Hi Anke, komme irgendwie nicht klar. Können wir …
Sie wollte gerade die Tastensperre deaktivieren, um die ganze Nachricht lesen zu können, da wurde die Tür vom KO aufgestoßen, und die knapp zweihundert Besucher strömten aus der Kirche. Vor dem Tor bildete sich schnell ein Auflauf, da viele mit dem Fahrrad gekommen waren und es natürlich direkt vor dem Eingang angeschlossen hatten.
Anke Frerichs hielt Ausschau nach ihrer Freundin. In Gedanken steckte sie das Handy wieder in die Tasche zurück, ohne die Nachricht gelesen zu haben. In dem Gewühl konnte sie sie nicht entdecken. Plötzlich wurde die Beifahrertür aufgerissen. Erschrocken fuhr sie zusammen. Instinktiv glitt ihre Hand Richtung Hüfte.
»Hallo Anke, grüß dich!« Sie erkannte einen befreundeten Apotheker aus Ofenerdiek, seine Frau stand hinter ihm und winkte. »Was machst du denn hier?«
Erleichtert atmete sie auf. »Hallo Detlef. Ich warte auf Tanja. Sie war im Kulturzentrum bei einer Lesung. Ich hole sie ab, dann wollten wir noch eine Kleinigkeit essen gehen.«
»Das trifft sich ja gut. Wir sind gerade auf dem Weg ins Terrazza. Kommt doch einfach mit, ein Tisch ist bereits reserviert.«
Anke Frerichs ließ sich den Vorschlag durch den Kopf gehen. Ein leckerer Salat und ein schönes Glas Wein wären jetzt genau das Richtige. In diesem Moment kam Tanja aus dem KO. Sie erblickte den Wagen und das Apothekerpaar auf der gegenüberliegenden Straßenseite und lief winkend auf sie zu.
Keine zehn Minuten später saßen die vier lachend und scherzend in dem italienischen Restaurant und studierten die Speisekarte. Es wurde trotz all des erlebten Grauens ein entspannter und sehr netter Abend.
Währenddessen überprüfte Enno Melchert immer wieder sein Handy. Doch es tat sich nichts. Das Handy blieb stumm. Vor gut einer halben Stunde hatte er Anke Frerichs eine SMS geschrieben. Und vor circa fünfzehn Minuten noch eine und vor ungefähr acht Minuten eine weitere. Sie hatte bisher nicht reagiert. Und wahrscheinlich würde sie es auch heute Nacht nicht mehr. Werner Vollmers hatte ihn sofort vom Marktplatz aus nach Hause geschickt. Er sollte sich erholen, runterkommen. Doch das funktionierte nicht. Frustriert warf Enno das Handy auf den Stubentisch vor ihm und fuhr sich mit feuchten Fingern durchs zerwühlte Haar. Es ging ihm nicht gut. Er saß mit dem Rücken gegen sein Sofa gelehnt auf dem Boden in seinem Einzimmerappartement in Kreyenbrück. Eine Flasche Wodka und mehrere leere Dosen Red Bull lagen auf dem Teppich. Der Fernseher lief, aber er starrte nur vor sich hin. Er war hundemüde, doch er konnte und wollte nicht einschlafen!
Seine Gedanken verselbstständigten sich und führten ihn immer wieder zurück zu dem Toten in der Kirche. Sein Magen knurrte. Wann hatte er eigentlich heute das letzte Mal etwas Vernünftiges gegessen? Er war sich nicht sicher. Heute Morgen? Mittags? Er überlegte, ob er noch nach gegenüber zu Burger King gehen und sich einen Whopper holen sollte. Sein Blick wurde glasig, sein Kopf sank langsam nach vorne auf die Brust. Schließlich übermannte ihn doch der Schlaf. Unruhig wälzte er sich auf dem Boden hin und her. Trugbilder und Albträume begleiteten ihn durch die Nacht – bis er wenige Stunden später in der Dämmerung erwachte …
[1] Quelle: www.oldenburg-tourist.de