Als sie durch die Tür in den Eingangsbereich des Museums traten, bot sich ihnen ein skurriles Bild. Um eine auf einer Besucherbank sitzende Frau drängelten sich zahlreiche Menschen. Die Frau war ohne Zweifel tot, sah aber eher aus, als würde sie nach einem anstrengenden Museumsbesuch eine kleine Pause machen. Sie saß gerade, leicht an die Wand gelehnt da und starrte mit offenen Augen die schematische Darstellung einer Moorlandschaft an. Daneben hing ein Plakat. An der unteren rechten Ecke war es eingerissen. Lange Nacht der Museen – Sonderausstellung: Karl Jaspers. Leben und Wirken eines Vordenkers. Mai bis September. Aus dem Mundwinkel der Frau rann ein einzelner Speichelfaden über das Kinn den Hals hinunter.
Ein grauhaariger Mann, Mitte bis Ende fünfzig, in einem dunkelblauen Sakko und einer schwarzen Stoffhose, die Krawatte hatte er sich in die Knopfleiste seines weißen Hemdes gesteckt, lief aufgeregt zwischen den Einsatzkräften der Spurensicherung hin und her. Als er Vollmers erblickte, kam er wild gestikulierend auf die beiden Kommissare zugelaufen und versuchte ihnen den Weg abzuschneiden.
»Der stellvertretende Museumsdirektor, Dr. Reichert«, raunte Anke Frerichs Vollmers zu, während sie versuchten, ohne Umwege auf die Leiche zuzusteuern. Doch Dr. Reichert war schneller. Kurz vor dem obligatorischen Tatortabsperrband hatte er sie erreicht.
»Um Gottes willen«, rief er theatralisch mit erhobenen Armen, »um Gottes willen, was stellen Ihre Leute denn mit meinem Museum an?«
Vollmers hob beschwichtigend die Hände und redete beruhigend auf den Mann ein, während er Anke Frerichs unauffällig an ihm vorbeischob und ihr mit einer offensichtlichen Kopfbewegung zu verstehen gab, dass sie schon mal loslegen sollte. Er würde sich um den aufgebrachten Museumsdirektor kümmern. Sie verstand und ging an die Arbeit.
Ein großgewachsener, braungebrannter Mann Anfang dreißig trat ihr in den Weg und versperrte den Zugang. Anke Frerichs holte ihre Dienstmarke aus der Hosentasche und zeigte sie ihm.
»Moin Herr Kollege, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Anke Frerichs, und das da drüben ist mein Kollege Werner Vollmers.« Sie zeigte auf die beiden Männer, die sich, tief in eine Diskussion verstrickt, wie zwei Boxer im Ring ständig umeinander herum bewegten. Sie schenkte dem Kollegen ein entwaffnendes Lächeln und streckte ihm die rechte Hand entgegen.
»Torben Kuck, Spurensicherung Wilhelmshaven«, antwortete er etwas überrumpelt, während er seinen Gummihandschuh auszog und ihre Hand ergriff. »Entschuldigen Sie bitte, ich bin neu hier. Wegen dem Scheiß hier hat man mich nach Oldenburg geschickt.« Jetzt lächelte er. »Ist das der Vollmers?« fragte er und sah sie verschwörerisch an.
Anke Frerichs grinste. »Ja, das ist der Vollmers«, antwortete sie. Und zwinkerte ihm zu.
»Hammer!« sagte Kuck. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal mit ihm zusammenarbeiten würde. Cool!«
»Genau. Cool! Und ich bin die Frerichs, und erst mal arbeiten Sie jetzt mit mir zusammen.« Sie grinste ihn breit an und trat einen Schritt zur Seite, um sich wieder in sein Blickfeld zu schieben.
Kuck errötete. »Oh, entschuldigen Sie bitte.«
»Macht nichts.« Anke Frerichs drängte ihn unauffällig in Richtung Tatort zurück. »Was können Sie mir bis jetzt sagen?« fragte sie, ging vor der Leiche in die Hocke und betrachtete die junge Frau eingehend. Sie war keine Schönheit, aber auch nicht hässlich.
»Hanna Bolt, 28 Jahre, aus Petersfehn. Bisher keine auffälligen äußeren Verletzungen zu erkennen. Nur ein kleiner roter Punkt am rechten Zeigefinder.«
»Wo kommt der her?«
»Kommen Sie mal etwas näher, und bücken Sie sich noch etwas runter. Ich habe hier unter der Bank etwas gefunden. Sehen Sie? Hier.« Er deutete auf einen kleinen spitzen Nagel oder eine Art Nadel, die unterhalb der Bank aus dem Holz ragte. Anke Frerichs streckte die Hand aus und wollte danach tasten, als er unvermittelt und mit festem Griff ihren Arm festhielt.
»Vorsicht!« rief er und er zog ihren Arm mit einem Ruck zurück. Sie wollte gerade lauthals protestieren, da ließ er ihren Arm auch schon wieder los. Sie schaute ihn wütend an.
»Ich kann noch nichts Bestimmtes sagen, vielleicht ist es ja nur ein einfacher Nagel, der nicht ordentlich eingeschlagen wurde, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass er etwas mit ihrem Tod zu tun hat«, er deutete mit dem Kopf auf die tote Frau.
»Gift?« fragte Anke Frerichs und atmete heftig aus. Um ein Haar wäre sie dem Täter in die Falle gegangen. Natürlich nur vorausgesetzt, Hanna Bolt wurde wirklich vergiftet. Möglich war es. Innerlich schalt sie sich selbst für so einen dummen Anfängerfehler.
»Es ist natürlich zu früh, etwas zu sagen, aber für mich ist es momentan die einzig sinnvolle Erklärung«, sagte er und setzte sich neben sie auf den Boden.
Hinter sich nahm sie das Klingeln eines Telefons wahr. Es klang nach Vollmers Handy. Spiel mir das Lied vom Tod. Ein außergewöhnlich zynischer Klingelton für einen Hauptkommissar bei der Mordkommission, aber leider allzu oft sehr zutreffend.
Anke Frerichs konnte aus dem Augenwinkel erkennen, wie er telefonierte. Nebenbei brachte er Dr. Reichert mit einer unmissverständlichen Geste zum Schweigen. Der zog sogleich wutentbrannt von dannen.
Vollmers nickte ein-, zweimal, schüttelte den Kopf und bedankte sich mit einem knappen Nicken bei seinem Anrufer. Dann steckte er das Telefon in seine Jackentasche und kam zu den beiden herüber. Er nickte Torben Kuck kurz zur Begrüßung zu. »Das war Dr. Braun von der Rechtsmedizin. Es war tatsächlich Gift, das den Jungen umgebracht hat. Ein sehr schnell wirkendes sogar. Ein sogenanntes Pfeilgift.«
»Dann ist das ja eben gerade noch mal gutgegangen«, sagte Torben Kuck und stieß geräuschvoll die Luft aus.
Vollmers sah Frerichs und Kuck fragend an. Er verstand nicht, was da zwischen den beiden vorging. Hätte er geahnt, dass seine Partnerin vor nicht einmal drei Minuten dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen war, wäre er sicherlich nicht so gelassen geblieben.